Selbstoptimierung: Weniger ist manchmal mehr
Der Zwang zur Selbstoptimierung führt zuweilen zum Wahn(sinn) und lässt übertriebene Erwartungen entstehen, die der Arzt an sich selbst stellt oder die von außen an ihn gestellt werden. Doch es gibt Möglichkeiten, konstruktiv damit umzugehen.
Was genau ist mit Selbstoptimierung gemeint? Damit ist nicht nur allein die Erwartung der körperlichen Selbstoptimierung gemeint, sondern auch das Ziel, in jedem Bereich das absolute Maximum zu leisten und Perfektion anzustreben – auch um andere Menschen oder den Arbeitgeber zu beeindrucken. Die Vermessung des eigenen Selbst, etwa durch die Quantified-Self-Bewegung, nimmt zuweilen bedrohliche und groteske Ausmaße an, wenn insbesondere junge Leute sich durch die digitale Erfassung körperbezogener Daten gängeln und von Plastikarmbändern per LED-Anzeige vorschreiben lassen, wann sie wo welcher sportlichen Aktivität nachzugehen haben.
Wer als Arzt den Zwang zur Selbstoptimierung akzeptieren will, der sollte sich nicht daran hindern lassen. Alle anderen aber sollten kritisch hinterfragen, ob sie wirklich jede Verbesserung, die theoretisch möglich wäre, mitmachen müssen.
Über Zielsetzungen reflektieren
Zuweilen fällt es denjenigen, die sich dem Zwang zur Selbstoptimierung entziehen wollen, schwer, sich mit ihren Argumenten durchzusetzen. Selbstcoacher, die sich Gedanken über ihre persönliche Weiterentwicklung machen, geben zu bedenken, dass man zumindest reflektieren sollte, wofür genau jene Selbstoptimierung dienen soll: Welchen Zielsetzungen, welchen Zielen dient sie? Welche Kompetenzen, Fähigkeiten und Eigenschaften, die man benötigt und gerne hätte, um das Vorhaben zu realisieren, müssen auf- und ausgebaut werden?
Pointiert ausgedrückt: Wenn die Selbstoptimierung im Dienst eines höheren Ziels steht, ist dies etwas anderes, als wenn sie um ihrer selbst willen betrieben und allein deswegen ins Werk gesetzt wird, weil es chic und modisch ist.
Die Selbstcoaching-Expertin Stefanie Demann schreibt dazu in ihrem Buch „Selbstcoaching für Führungskräfte“: „Der Wert eines Menschen berechnet sich doch nicht dadurch, dass er sich von oben bis unten selbst vermisst und auf Wirtschaftlichkeit abklopft. (. . .) Das Beste aus sich zu machen bedeutet nicht, sich permanent zu überwachen und jede Aktivität auf ihren wirtschaftlichen Nutzen hin zu überprüfen.“
Alle auf Selbstoptimierung orientierten Ärzte sollten sich darum zumindest die Frage stellen: Warum das alles? Nur um einem „Höher, Schneller, Besser, Weiter“ zu genügen – oder um ein bestimmtes berufliches oder auch privates Ziel zu erreichen?
Statt Aktivitätenplan mehr Müßiggang wagen
Die Vermutung, Selbstoptimierung habe mit den zunehmenden Burn-out-Fällen zumindest etwas zu tun, liegt nahe. Wer aber heutzutage den Mut zur Bescheidenheit, zur Selbstbeschränkung oder auch zur Muße predigt, macht sich der Faulenzerei verdächtig. Dabei sagt die Kreativitätsforschung, dass gerade im Stadium des Nichttuns, der Muße, ja der Langeweile zuweilen die besten Heureka-Ideen geboren werden. Bekanntlich soll im dritten Jahrhundert vor Christus der griechische Mathematiker und Physiker Archimedes, nachdem er das nach ihm benannte Archimedische Prinzip entdeckt hatte, „Heureka!“ rufend aus der Badewanne gesprungen und durch die Stadt gelaufen sein. Seitdem wird „Heureka!“ als freudiger Ausruf nach der gelungenen Lösung einer schwierigen geistigen Aufgabe und zudem als Synonym für eine plötzliche Erkenntnis verwendet.
Die Jagd nach dem Maximum, Topleistungen und kreativ-innovativen Ideen setzt also nicht zwingend einen Zustand der absoluten Perfektion und Selbstoptimierung voraus. Im Gegenteil: Das Leben im Stand-by-Modus ohne das permanente Blinken und Bimmeln von Smartphone, Apps und Co. und ohne die sekündliche Belastung durch die Selbstvermessungstechnik am Armband kann den kreativen Blick für das Neue und Unerwartete weiten.
Darum sollten Ärzte, die tagtäglich der stressigen Hektik des Praxis- und Klinikalltags ausgesetzt sind, zumindest einmal die Option prüfen, den strukturierten Aktivitätenplan auf Seite zu legen und mehr Müßiggang zu wagen. Nicht immer bringt sich regen auch Segen, nicht immer ist der Müßiggang aller Laster Anfang, sondern der selige Beginn eines kreativen Gedankenblitzes – „Heureka!“ eben.
Realistischere Haltung aufbauen
Was nicht passieren darf: Die Selbstoptimierung artet zur Belastung aus. Darum ist es zielführender, die Optimierung einer Kompetenz zu einem Ende zu bringen, bevor sich der Arzt der nächsten hingibt. Die Haltung der ewigen Selbstoptimierung suggeriert, dass es von Nachteil sei, den Augenblick festzuhalten – vielmehr sollen parallel gleich mehrere Optimierungsziele erreicht werden: Man könnte ja etwas verpassen, wenn man sich lediglich auf ein Ziel konzentriert. So setzt man sich dem Stress aus, von einem erreichten Ziel zum nächsten zu hetzen oder sich zu atomisieren und zu zersplittern, weil man alles zugleich erreichen will. Dabei bleiben Kontinuität und Beständigkeit zuweilen auf der Strecke.
Um ein Gegengewicht aufzubauen, kann es richtig sein, eine Fremdeinschätzung einzuholen und die Sinnhaftigkeit der selbst auferlegten Optimierungsziele mit einer anderen Person zu diskutieren. Das kann ein neutraler Coach sein oder ein Bekannter, dem der Arzt vertraut, der sich aber überdies traut, ihm gegebenenfalls schonungslos die Wahrheit zu sagen und ihn darauf hinzuweisen, dass er mit den Selbstoptimierungsaktivitäten über das Ziel hinausschießt.
Keine Angst vor Kontrollverlust
Die große Herausforderung für die meisten Menschen besteht wohl darin, sich auf eine Entwicklung einzulassen, die vielleicht nicht eintritt und nicht messbar und kontrollierbar ist. Der ständige Datentransfer, der mit der Selbstoptimierung einhergeht und Voraussetzung für den Optimierungswahn ist, spielt eine allgegenwärtige Beherrschbarkeit des beruflichen und privaten Alltags, ja des Lebens vor, die es nicht gibt. Darum: Man sollte lernen, sich auf das Unkontrollierbare und Nichtmessbare des Lebens einzulassen.
Dr. Michael Madel
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