Sprachbausteine - Das Unbewusste ist wohlinformiert

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Das Unbewusste ist wohlinformiert

Wer eine wichtige Sache zu entscheiden hat, nehme ein Blatt Papier und zeichne sich eine Tabelle mit zwei Spalten. Die eine überschreibe er mit „Pro“, die andere mit „Contra“. Und dann sammle er ein paar Tage lang alle relevanten Argumente. Dann wäge er diese ab, streiche gleichstarke weg und entnehme aus der Gewichtung der übrig gebliebenen die Lösung des Problems. „Moralische Algebra“ nannte der amerikanische Politiker und Naturforscher Benjamin Franklin (1706−1790) diese Prozedur.

Hin und wieder soll es vorkommen, dass Menschen in der Tat auf diese Weise zu einer Entscheidung kommen. Meist allerdings scheitert dieses Verfahren schon im Ansatz: weil wir weder die Zeit noch ausreichend Informationen dazu haben. Und wir funktionieren trotzdem. Der Torwart, der bei einem Elfmeter entscheiden muss, ob er nach rechts oder nach links springt, legt so wenig eine Liste an wie der Kunde, der im Supermarkt vor einem gut gefüllten Marmeladenregal steht. Sie entscheiden sich stattdessen intuitiv.

Nun ging es Franklin auch nicht um Marmeladensorten, sondern um wichtige Entscheidungen. Ein Freund von ihm habe Franklins Verfahren angewandt, um zu beschließen, welche Frau er heiraten solle, berichtet Gerd Gigerenzer, Psychologe und Direktor am Max-​Planck-​Institut für Bildungsforschung in Berlin. Doch als er das Ergebnis seiner Berechnung vor sich sah, wusste er, dass es falsch war. Dafür hatte er zwar keine Argumente, war sich aber dennoch ganz sicher.

Die abendländische Geistesgeschichte kennt seit ihren Anfängen beides: das Lob der Vernunft und das Lob der Weisheit des Herzens, die Wertschätzung der Ratio und die Wertschätzung der Intuition. Bis heute werden Vernunft und Intuition gegeneinander ausgespielt; mal gilt die eine, mal die andere als überlegen. Das bewusste Nachdenken ist anstrengend und zeitraubend. Dafür kann man sein Ergebnis begründen und rechtfertigen. Die intuitive Entscheidung hingegen gelingt zwar meist schnell und mühelos, stammt dafür aber aus den undurchsichtigen Tiefen des Unbewussten.

Zwei Denksysteme? Oder doch nur eines?
Dieser alte Gegensatz hat sich in Form von Theorien zweier kognitiver Systeme bis in unsere Tage gehalten: Das eine Denksystem sei zuständig für die schnellen, intuitiven, das andere für die langsamen, überlegten Entscheidungen. Das klinge auf den ersten Blick überzeugend, sei konzeptionell aber fragwürdig, meint die Kognitionswissenschaftlerin Kirsten Volz von der Universität Tübingen.

Eine Information erreicht das Gehirn, das schnelle System springt an und kommt zu einem Ergebnis. Wie kann es nun sein, dass wir nicht tun, was das schnelle System verlangt? Weil wir noch einmal nachdenken möchten? Das langsamere bewusste System hat ja noch gar nicht richtig angefangen zu arbeiten, geschweige denn ein Ergebnis vorzuweisen, um das unbewusste System auszubremsen. „Und wenn das erste System immer erst auf die Freigabe durch das zweite warten sollte, bräuchten wir gar kein schnelles System“, so Volz. Das könne den gängigen Theorien zweier Denksysteme zufolge nicht funktionieren. Volz geht daher davon aus, dass hier lediglich ein komplexes System am Werke ist. Manchmal dringt seine Aktivität bis ins Bewusstsein vor. Es kann das Verhalten aber auch beeinflussen, ohne dass wir etwas davon mitbekommen.

Gegen die Theorien zweier kognitiver Systeme spricht noch ein anderes Argument: So wäre für das Gehirn die Existenz von zwei völlig getrennten Systemen, die nicht miteinander vernetzt sind und keinen Informationsaustausch pflegen, völlig untypisch. Ist doch ansonsten im Gehirn so ziemlich alles mit allem vernetzt.

Erfolgreich, aber unbewusst
Den vielfältigen unbewussten Prozessen, von der Wahrnehmung bis zum impliziten Lernen, ist eines gemein: Der Mensch kann nicht bewusst Auskunft über sie geben. Das zeigt sich in diversen Untersuchungen. So gelang es beispielsweise den Versuchspersonen in einer Studie von 2013, intuitiv die Aggressivität von Kampfsportlern einzuschätzen. Ebenso gut waren Probanden beim intuitiven Erkennen der sexuellen Orientierung von Männern und selbst bei der Frage, ob eine gezeigte Person zur Glaubensgemeinschaft der Mormonen gehöre. Keine Versuchsperson konnte aber angeben, worauf sie ihre Entscheidungen gründete.

„Für solche Entscheidungen bedienen sich die Menschen einer Wissensbasis, die ihnen nicht bewusst zugänglich ist“, erklärt Volz. Das macht die intuitiven Entscheidungen nicht willkürlich. Doch die Forscher mussten ihre Testbilder lange variieren, bis sie heraushatten, dass es im Fall der Aggressivität wohl auf den Augenabstand ankommt und die Zugehörigkeit zu den Mormonen anhand der Gesichtshaut beurteilt wird. „Ob dies wirklich die einzigen oder auch nur die entscheidenden Kriterien sind, wissen wir bisher nicht“, so Volz.

Den Zugriff auf diese unbewusste Wissensbasis hat die intuitive Entscheidung der rationalen voraus. Dieses Wissen dürfte sich zum größten Teil aus der individuellen Erfahrung speisen.

Daumenregeln
Gerd Gigerenzer nennt die Regeln, denen die intuitiven Entscheidungen folgen, Heuristiken oder Daumenregeln. Sein Beispiel: Wie schafft es ein Baseballspieler, einem Ball entgegenzulaufen und ihn zu fangen? Sicher nicht, indem er die Formel für die Flugbahn des Balls ausrechnet. Er läuft einfach so, dass sein Blickwinkel zum Ball immer derselbe bleibt.

Gigerenzer hält es für sinnvoll, solche oftmals unbewussten Heuristiken auszubuchstabieren, damit wir sie auch bewusst verwenden können, wenn Probleme zu komplex sind, als dass wir sie rational lösen könnten. Seiner Ansicht nach sollten wir nicht die einfachen Dinge des Alltags den Intuitionen überlassen, die wirklich wichtigen Entscheidungen hingegen rational betrachten, sondern genau anders herum: Denn oft sind gerade die wichtigen Entscheidungen zu komplex, als dass wir alle relevanten Informationen nach dem Muster von Benjamin Frankling gegeneinander abwägen könnten. Hier plädiert Gigerenzer dafür, dem intuitiven Bauchgefühl mehr zuzutrauen, statt sich an schlechte, aber begründbare Entscheidungen zu klammern Entscheidend ist das Bauchgefühl.
(Autorin: Dr. Manuela Lenzen - modifiziert)